Kirchenmusik zur Zeit Luthers

Kirchenmusik zur Zeit Luthers
Kirchenmusik zur Zeit Luthers
 
Die Reformation hat die Entwicklung der Musik in Deutschland maßgeblich beeinflusst und das Verständnis für ihr Wesen und ihre Funktion deutlich verändert. Die protestantische liturgische Praxis förderte die Ausbildung neuer musikalischer Gattungen und Formen, übernahm aber auch vorhandenes Repertoire. Beides wurde bestimmt von der Überzeugung Luthers, dass die Musik ein Geschenk Gottes ist und dem Menschen wie kein anderes Medium die Möglichkeit gibt, seinen Glauben im Gotteslob auszudrücken.
 
Neubildungen im Rahmen der Lutherschen Liturgie - Luther veröffentlichte 1526 seine »Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes« - bildeten die einstimmigen Messgesänge nach gregorianischem Vorbild, aber in vereinfachter und eingedeutscher Form. Ebenso wichtig war das Gemeindelied, das die Gemeinde wieder zum eigentlichen Träger der Liturgie machen sollte. Es konnte von allen Gläubigen rasch aufgenommen werden und ersetzte an wesentlichen Stellen des Gottesdienstes den komplizierteren, von ausgebildeten Sängern vorzutragenden gregorianischen Choral. Bei der Schaffung von Liedern wurde zum Teil älteres Liedgut, deutschsprachig oder lateinisch, aufgenommen und umgeformt. Psalmen, Bibelstellen und lateinische geistliche Prosa lieferten Anregungen zu neuen Texten, die zu einprägsamen bekannten oder eigens komponierten schlichten Weisen gesungen wurden.
 
Daneben wurde von Anfang an die kunstvolle mehrstimmige Komposition gepflegt. Beispielgebend hierfür war das »Geystliche gesangk Buchleyn« von Johann Walter, dem Freund und musikalischen Ratgeber Luthers, das 1524 in Wittenberg gedruckt wurde. Es enthält Kirchenlieder in anspruchsvollen, aber gut singbaren Cantus-firmus-Sätzen. Die Liedweise liegt meist im Tenor, der von den übrigen Stimmen polyphon umspielt wird. In späteren Auflagen nahm Walter auch einfache homophone Sätze auf. Diese Technik des Kantionalsatzes, der alle Stimmen im gleichen Rhythmus führt und für Laien einfacher zu singen war, entwickelte sich seit der Jahrhundertmitte in verschiedenen Lieddrucken und wurde erstmals konsequent durchgeführt in Lukas OsiandersSammlung »Fünffzig geistliche Lieder und Psalmen mit vier Stimmen auff Contrapunctweise also gesetzt, das eine gantze Christliche Gemein durchauß mitsingen kan« (Nürnberg 1586).
 
Im Bereich der polyphonen Verarbeitung von Vorlagen dominierte in der zweiten Jahrhunderthälfte die Liedmotette, die die Liedweise nicht mehr - wie noch bei Walter - unangetastet lässt, sondern in die gesamte Satzstruktur einschmilzt. So gewinnt der Komponist vielfältige Möglichkeiten, den Text musikalisch auszudeuten und die Liedmotette in den Dienst protestantischer Wortverkündigung zu stellen. Gattungsgeschichtlich dokumentiert sich darin zugleich die Verwandtschaft solcher Werke mit der frankoflämischen Motette.
 
Einen besonderen Zweig evangelischer Kirchenmusik bildeten die Passionsvertonungen, die unmittelbar an katholische lateinische Vorbilder anknüpften. Man unterscheidet hier zwei Formen: Die »responsoriale« Passion (erstmals wohl bei Johann Walter, um 1545) lässt anfangs den gesamten Passionstext einstimmig vortragen, mit Ausnahme der in simpler, homophoner Mehrstimmigkeit gesetzten Turbae (die Chöre der »Scharen«: unter anderm des Volks, der Jünger, der Pharisäer). Später nahmen die mehrstimmigen Anteile zu und wurden kunstvoller durchgearbeitet. Lediglich die Evangelistenpartie blieb einstimmig (in dieser Form seit der »Johannes-Passion«, 1561, von Antonio Scandello). Die »durchkomponierte« Passion reiht den Passionstext in einer Folge von motettischen Sätzen aneinander, gibt also im Unterschied zur responsorialen Passion auch die direkten Reden einzelner Personen (der »Soliloquenten« Christus, Petrus, Pilatus und andere) mehrstimmig wieder. Sie orientierte sich unmittelbar an katholischen Vertonungen der Passionserzählung, zum Beispiel bei Antoine de Longueval, der alle Evangelien benutzt, oder bei Cypriano de Rore (»Passio. .. secundum Joannem«, 1557). Der Text blieb auch im protestantischen Raum zunächst lateinisch (zum Beispiel bei Johannes Galliculus, 1538). Erst mit der »Johannes-Passion« von Joachim a Burgk (1568) wurde die deutschsprachige motettische Passion in den protestantischen Gottesdienst eingeführt. Eine dritte Form, der vom Oratorium beeinflusste Typus der »oratorischen Passion«, gehört bereits dem 17. Jahrhundert an.
 
Lateinische Texte finden sich nicht nur bei Passionsvertonungen. Denn neben Neukompositionen in deutscher Sprache wurde der reiche Werkbestand lateinischer Vokalpolyphonie ohne konfessionelle Abgrenzung in die protestantische Musikpraxis einbezogen. Nach Luthers Vorstellungen konnte der Gottesdienst deutsch oder lateinisch (und natürlich auch gemischtsprachig) vollzogen werden. Und der Musik sprach man ohnehin eine überkonfessionelle religiöse Bedeutung zu. Geistliche Werke mit lateinischem Text von frankoflämischen oder italienischen Komponisten seit Josquin Desprez, den Luther über alle anderen Musiker stellte, wurden daher überall benutzt, wo es den Fähigkeiten der Ausführenden nach möglich war.
 
Der Gesang solcher Figuralmusik, aber auch die Darstellung von Liedmotetten, Psalm- und Spruchmotetten (das sind freie Kompositionen auf Psalmen oder einzelne Bibelworte), verlangte gut geschulte Chöre, die als protestantische Kantoreien in vielen Städten eingerichtet wurden. Die erste Kantorei gründete Johann Walter 1526 in Torgau. Sie bestand aus Schülern der Lateinschule und interessierten Bürgern und hatte richtungweisende Bedeutung für die Pflege mehrstimmiger Musik innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes im deutschen protestantischen Raum. Johann Walter war auch der erste lutherische Kantor mit einem durchaus anderen Aufgabenfeld und Berufsbild als etwa ein Kapellmeister an Höfen oder Kathedralen. Als Sangmeister und Komponist, als Lehrer (auch in den wissenschaftlichen Fächern) und städtischer Musikbeamter bestimmte er das Musikleben einer ganzen Stadt. Damit verkörperte er einen neuen Musikertyp, der in Deutschland bis in die Zeit des Leipziger Thomaskantors Johann Sebastian Bach hinein prägende Bedeutung behielt.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Besseler, Heinrich: Die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Lizenzausgabe Laaber 1979.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher, auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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